Strassenbild 1977-1989
Das Buch „Berlin in einer Hundenacht“ enthält 6 Serien:
1. Berlin in einer Hundenacht, 2. Arbeit, 3. Straßenbild, 4. Tamerlan, 5. Aktporträts, 6. Der Wind füllt sich mit Wasser.
Berlin in einer Hundenacht
Lehmstedt Verlag , Leipzig, 1977 -1989
Ich weiß, in einigen Jahrzehnten wird vieles aus unserem heutigen Leben verschwunden sein, was wir für selbstverständlich halten. Die Bewegung, die uns mitreißt, wird alle Dimensionen brechen von dem, was wir bereits an Einsamkeit , Isolation, Beziehungslosigkeit und Fremdheit in uns tragen. Alles Lebendige wird verschwinden – Fragen sind normiert, Antworten, Sprache, Gefühle, Liebe, Verstand. Diejenigen, die aus der Reihe tanzen, gelten als verrückt, werden aus dem öffentlichen Bild gebracht, weil sie stören, kommen hinter verschlossene Türen, wo sie unter sich sind und nicht mehr gehört und gesehen werden können. Damit gibt es sie scheinbar nicht. Alles, was nicht normiert ist, kommt weg, wird verpöhnt, verspottet, ausgelacht, denunziert und bekämpft. Eine anonyme, leere und stille Welt, die reich und sauber ist, ohne materielle Not. Jeder verdient genügend Geld und kann, je nach Ansprüchen, sich kaufen, was er will. Ein Gefühl der Langeweile und Überflüssigkeit wird die Menschen gleichgültig machen gegenüber ihrem Leben. Es wird nicht mehr kostbar sein, das Leben. Weil alles schon von Geburt an feststeht: Kindergarten, Schule, Beruf, Heirat, Kinder, Alter, Krankheit, Tod. Still stirbt der Mensch in diesen Zeiten und wird nichts zurücklassen. Denn auch die Eigenschaften der Menschen sind normiert. Sie haben ihre Wunschvorstellungen und wer nicht ist, was er gern sein möchte, lebt in einem geträumten Bild und vergißt das reale. Solche Menschen sind sehr flexibel. Sie können sich jeder Meinung, Situation und Menschen anpassen, wechseln ihre Identität wie ihre Kleidung ohne zu bemerken, daß sie ihre eigene schon längst verloren haben oder niemals besaßen. Solche Menschen sind nicht greifbar. Sie hinterlassen den Eindruck, als ob sie gar nicht da wären, strahlen ein Gefühl des Nichts aus. Der Klang ihrer Stimmen ist verschwunden. Ein Trommelfell zerreißendes Lachen ist erstickt, ab und zu erscheint stattdessen ein kläglicher Ton, der tief in der Kehle steckenbleibt und wenig an Lachen erinnert. Die Bewegungen werden langsam und mühselig, das Fleisch wird ohne Gesundheit, Farbe, Sauerstoff, Durchblutung und kräftiger, an Bewegung gewöhnte Muskulatur. Selbst das Gespräch wird zwischen diesen Menschen unmöglich werden, denn ihre Halbbildung nährt es nicht lange. Lautlos werden sie sich vermehren. Lautlos werden sie gehen. Als meine Großmutter 1975 starb, ließ sie etwas zurück. Ich muß heute noch weinen, wenn ich an sie denke. Ich spreche noch mit ihr und formuliere Gedanken. Über Klassenunterschiede wird keiner mehr nachdenken. Nicht, weil sie verschwunden sind, sondern weil sie äußerlich nicht mehr sichtbar sind. Die moderne Technik löst die Konflikte. Es wird genügend ausgespuckt und massenhaft verteilt werden. Selbst von den Abfällen läßt sich’s gut leben. Die Menschen werden einige Stunden am Tag ihre Arbeit verrichten, dann werden sie ihrer Freizeit nachgehen, sich vergnügen, Sport treiben, tanzen, trinken. Sie werden sich einbilden, ihr Leben wäre besser als das ihrer Großväter, denn mehr als essen, schlafen, trinken und Kinder zeugen werden sie nicht erwarten. Kultur ist zum Konsum geworden. Genuss geht übers Geld. Kunst wird zur Dienstleitung. Für jede Psyche etwas. Zärtlichkeit und Wärme über ein Zeitungsinserat. Abenteuer über Spielautomaten. Auch ihre Vorstellung von Liebe wird auf’s Bett und den gemeinsamen Alltag beschränkt sein. Die Frauen werden sich den Männern angleichen, so daß auch dieser Konflikt gelöst zu sein scheint.
Unsichtbare Gesetze bewegen das Ganze, die mechanisch befolgt werden, weil sie früh genug den Menschen eingebläut worden sind. Es wird wenig Menschen geben, die ernsthaft und aufrichtig darüber nachdenken werden. Den Schriftstellern traue ich es nicht zu, auch den wenigsten Künstlern. Eher den Geschädigten, den Kranken, den Verrückten, den Alkoholikern, den Alten…
Gundula Schulze Eldowy, Berlin 1986