TAMERLAN 1977-1989
Das Buch „Berlin in einer Hundenacht“ enthält 6 Serien:
1. Berlin in einer Hundenacht, 2. Arbeit, 3. Straßenbild, 4. Tamerlan, 5. Aktporträts, 6. Der Wind füllt sich mit Wasser.
Kennwort: Tamerlan
Die Frau am Kreuz
The Woman on the Cross
Ein Film von Gundula Schulze Eldowy
Berlin 1993/2020
Schnitt / Ton Clemens Freigang, Uwe Ziegenhagen
Der Film, der 26 Jahre im Archiv schmorte, spricht die Kreuzigung der Seele einer Frau an. Gezeigt werden die letzten Minuten im Leben Elsbeth Kördels, die von ihrem Mann, einem Photographen, Tamerlan getauft wurde, nachdem er den Namen in einem Tucholsky-Gedicht in Berliner Cabarets hörte. Seitdem scheinen Name, Umstände und Zeit, die Macht gehabt zu haben, die Seele der Frau zu verfinstern. “Es gibt kein größeres Leid als den Tod der Seele. Der leibliche Tod kommt erst in zweiter Linie“, schrieb Dschuang Dsi. Der Tiefpunkt ist erreicht, als Tamerlan dieselben Worte wie Jesus am Kreuz ausspricht. Bei ihm ist es der „Vater”, bei ihr die “Mutter”: “Manchmal habe ich den Kinderglauben, daß meine Mutter mich ruft: Mensch komm doch, komm! sagt sie und meint: Ich hab die Kraft nicht, ich kann dich noch nicht hochziehen… Mutter! Warum hast du mich verlassen? … Mutter, Mutter, warum hast du mich verlassen? … Ich bin hier in der Falschheit der Schlangen… ich lebe unter Schlangen… andere können wegrennen, aber ich sitze hier fest in einem Schlangennest. Mit Geld kannst du alles haben. Mit Geld kannst du wandern, kannst du reisen, dir andere Gesellschaft suchen, aber hier bin ich gebunden, habe jeden Tag dieselben Schlangen vor mir, sitze im Käfig und sehe die Schlangen vor mir.“
This film, which simmered in the archive for 26 years, discusses the crucifixion of the soul of a woman. On view are the last few minutes in the life of Elsbeth Kördels, who had been baptised Tamerlan by her husband, a photographer, after he had heard this name in a poem by Tucholsky at the Berlin Cabaret. Since then, the name, circumstances and time itself seem to have had the power to darken the soul of this woman. ‘There is no greater suffering than the death of the soul. Physical death only comes second’, wrote Dschuang Dsi. The lowest point is reached when Tamerlan speaks the same words as Christ on the cross. With him it is ‘father’, with her it is ‘mother’: ‘Sometimes I have the child’s belief that my mother is calling me: Human child, come here, come! She says and means: I don’t have the force to pull you up yet … Mother! Why did you leave me? … Mother, mother, why did you leave me? … I am surrounded by the fakeness of snakes … I live amongst snakes … others can run away, but I sit right in the middle of a snake nest. With money you can buy anything. With money you can go wandering, you can travel, you can seek other company, but here I am stuck; every day I am surrounded by the same snakes, I am sat in a cage and see the snakes before me’.
In the first image, I remembered your photographs of her. I can forget words, but not images.
It’s a compassionate, strong expression of her life and torments…
My one suggestion, possibly, is holding off from showing the image of her without her legs until the end.
Though we hear her words of pain and in metaphor in her angst, seeing her at the end allows the audience to understand something visually that they might not have known…
Of course the film is a strong statement as I knew it would be coming from you. Sorry I can’t write to you in German and speak more to you about it.
Es ist ein mitfühlender, starker Ausdruck ihres Lebens und ihrer Qualen … Mein einziger Vorschlag besteht möglicherweise darin, bis zum Ende damit zu warten, das Bild von ihr ohne ihre Beine zu zeigen. Obwohl wir ihre schmerzvollen Worte und Metaphern in ihrer Angst hören, ermöglicht ihr Anblick am Ende dem Publikum, etwas visuell zu verstehen, das es vielleicht nicht gewusst hätte. Natürlich ist der Film ein starkes Statement, da ich wusste, dass er von Dir kommen würde.
Mehr Information
“STILL ALIVE | Werke aus der Schenkung Sammlung Hoffmann“, Albertinum, 26.03.2021—04.07.2021 | Rundgang durch die Ausstellung
„ Tamerlan” ab 11:33 Minuten
Künstlerinnen-Gespräch 4. Juli 2021, Albertinum
„Frau Kördel raucht, nach vorn gesunken, die Hände über den geöffneten Knien, in einer Haltung, die verrät, dass sie sich nicht mehr darum schert, ob ihr Anblick irgendwelchen bürgerlichen oder sozialistischen Benimm-Maßstäben genügt. Zu einem dicken Mantel trägt sie leichte Sommerschuhe, die ihre Zehen freilassen. Auf dem nächsten Foto liegen dieselben Schuhe in einer verwahrlosten Wohnung, vor einem Bett mit ungezogener Matratze. Auch hier hat Frau Kordel eine Zigarette in der Hand, und man sieht nun deutlich, dass ihre nackten Füße geschwollen sind. Einige Fotos später werden sie unförmig aufgequollen sein. Dann ist ihr zunächst das rechte, auf einem späteren Foto auch das linke Bein amputiert worden. Gundula Schulze Eldowy hat ihr Modell vor und nach den Operationen nackt abgelichtet. Das letzte dieser Aktbilder zeigt die Greisin mit einem vernarbten und einem verbundenen Oberschenkelstumpf auf dem Laken eines Krankenhausbetts.“ Süddeutsche Zeitung, 6.11.2011, Georg Klein
The Diversification of EasT Germany’s Visual Culture
Candice M. Hamelin
In teaching us a new visual code, photographs alter and enlarge our notions of what is worth looking at and what we have the right to observe. They are a grammar and, even more importantly, an ethics of seeing.
—Susan Sontag, On Photography …
In 1972, at the age of eighteen, Gundula Schulze Eldowy left her hometown of Erfurt, a small city in Thuringia, to study at the Technical College of Advertising and Design in East Berlin. Taken with the unfamiliar sights and sounds of the East German capital, a city that she recollects as ‘an extinct metropolis’ that not only had the ‘feel of an archaeological site’, but that had ‘an unexpected magic’ due to its ‘unique blend of art, subculture, workers, refugees, and dreamers’, Schulze Eldowy frequently spent her days and nights as a young student wander- ing its streets.1 The scenes she saw and the individuals she encountered during these meanderings piqued her interest in those around her. Eager to learn more about their lives, she approached the locals whom she came across every day in the districts of Prenzlauer Berg and Mitte, and listened to their stories. These ini- tial interactions with her broadly defined neighbours – the baker, the cobbler, the newspaper seller, the vegetable man, the bar patron – helped her to acclimatize to her new surroundings, and shaped her artistic interests.
Mit ehrlichem Blick
Die Fotografin Gundula Schulze Eldowy schaute vorzugsweise dahin, wo es wehtat: also eher auf Verfall, Einsamkeit und Armut, aber auch auf das kleine Glück, das immer noch darin enthalten sein kann. Die c/o-Fotogalerie in Berlin widmet ihrer erstengroßen Werkphase nun eine eigene Ausstellung.
Von Carsten Probst | 03.01.2012