Texte und Gedichte
TÄNZERFLÜGEL
„Für den genialen Menschen gibt es nichts Geistvolleres, Tieferes als seine eigene Lebensgeschichte. Wenn große Künstler und Philosophen jeder unbedeutenden Einzelheit ihres Lebens eine Art religiösen Kult gewidmet haben, so kann nur ein sehr oberflächlicher Mensch glauben, daß dies Selbstbeweihräucherung war… sie spürten nämlich, daß dies eigentlich das einzige Thema sei“, schrieb Egon Friedell. Ein exemplarisches Beispiel künstlerischer Selbstbetrachtung sind die Erzählungen des Buches „Tänzerflügel“, mit denen sich Gundula Schulze-Eldowy die Seele aus dem Leib geschrieben hat, um sich von einer Vergangenheit zu lösen, die sich ihr als Abgrund offenbart. „Tänzerflügel“ ist eine moderne Mephisto-Geschichte, die jeder Einzelne von uns kennt. Armes Tier, existierst um gefressen zu werden! mögen wir beim Anblick einer Kuh manches Mal gedacht haben. Daß wir Menschen in ähnlicher Lage sind, indem unsere Seele gefressen wird, ist kaum geläufig. Wegen seiner Mehrdimensionalität den Menschen überlegen, kolonisierte ein Tier die Erde, bevor der Mensch auf der Bildfläche erschien. Das Buch beginnt harmlos, wovon sich der Leser nicht täuschen lassen sollte, denn auch die Autorin wird sich über die Zusammenhänge erst am Schluß im klaren. Am Anfang ihrer Reise sah das Tier noch wie ein Mythos aus, doch im Laufe des Buches wird seine reale Existenz immer gewisser.
Je subtiler das Bewußtsein der Autorin aufsteigt, desto mehr nimmt sie das Tier wahr. Das Grauen stört sie nicht. Indem sie ihre Seele hinaushebt, zeigt sie den Ausweg aus der Hölle. Gundula Schulze-Eldowys Reise ist eine Kreuzfahrt durch sich selbst, in der äußere Belange ihr Türen zur Innenschau öffnen. Rasant und in packenden Bildern erzählt, wie sie nur eine Fotografin zu vermitteln vermag, berichtet sie von Pyramiden und korrupten Beamten, die sie ausplündern, von einer antiken Bibliothek unterhalb des Gizeh-Plateaus, von unentdeckten Schächten in der Cheops-Pyramide, von Schwarzmagiern, die sich in Pferde und Enten verwandeln, von Riesenschlangen peruanischer Andenlagunen, die durch die Luft fliegen und sich in Menschen verwandeln. Überhaupt erscheint bei ihr die Fabelwelt der Kobolde, Zwerge, Riesen und Götter als reale Welt, mit der die Menschen mehr verflochten sind, als sie es wahrhaben wollen. Es ist keine fiktive Reise, sondern eine authentische Erzählung der Abenteuer einer Weltenbummlerin, die in Ägypten und Peru zweiundzwanzig Jahre lebte. Im permanenten Wechsel der Ebenen spürt sie ihre ureigene Natur auf, die stellvertretend für die der Menschen zu betrachten ist. Ihr Bericht ist ein aufrüttelnder Blick in die Abgründe des Menschseins. Nicht die Kolonisierung eines Territoriums, sondern die Kolonisierung der Seele, steht im Mittelpunkt. Dem Abgrund begegnet sie im vollen Bewußtsein. Nur so gelingt ihr die Neukonstituierung.
ZEITBLIND, Gundula Schulze Eldowy, Gedichte im Wind