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Tönende Bibliothek

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TÖNENDE BIBLIOTHEK 

Antike keramische Skulpturen der Moches

Im Gegensatz zu den Hinterlassenschaften antiker Völker, die von Erde und Meer vertilgt wurden, gibt es die Aufzeichnungen der antiken Moches noch, eines altperuanischen Stammes, der auf Keramiken und Tempelwände seine Geschichte malte und aus ungeklärten Gründen im achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung weggegangen war. Sie verwahrten sie vorher unter der Erde, wodurch sie von den Spaniern nicht entdeckt wurden. Beim Studium der Figuren und Bilder offenbarte sich mir ein besessenes Aufzeichnen ihres Lebens, als hätten sie ihren Untergang geahnt. Gewisse Parallelen zu Fotografie und Film, die ebenfalls Aufzeichnungen und Berichte sind, tun sich auf.  Wie wir bildeten die Moche jede Kleinigkeit ab, vom Haarwaschen in der Schüssel bis zum Echsengott, der einem Menschen den Kopf abschneidet. Ihr Gott Aiapaec war in jeder Lebenslage als Schlange, Echse, Drache oder Krokodil präsent. Hunderttausende keramischer Skulpturen werden Tönende Bibliothek genannt. Tönend sind sie im doppelten Sinn, weil sie Pfeiftöne von sich geben. Mit den hohlen Resonanzräumen im Innern funktionieren viele wie Musikinstrumente. Eines Tages fotografierte ich die Keramik eines weinenden Mädchens von höchstens sieben Jahren. Links und rechts waren ihre Haare zu Kugeln auf dem Kopf gebunden. Das Gefäß war zweiteilig. An die vordere Hauptfigur schloß sich ein zweites Gefäß an. Beide Teile waren miteinander verbunden. Blies ich in den Henkel, ertönte ein hoher Ton, der sich wie der eines wimmernden Kindes anhörte. Ein Drittel der Keramiken „pfeift“, hat ihren Ton. Es gibt Vögel vielerlei Art, die beim Hineinblasen zauberhafte Töne von sich geben. In die Keramik eines Seewolfs, ähnlich geformt wie die des weinenden Mädchens, blies ich hinein und hörte den Ton eines weinenden Seewolfs. Für die Moches ist Leben Melodie. Bis heute besitzen manche ihrer Nachfahren die Gabe, die Keramikgeister zu hören.
„Sie pfeifen! Es ist ein zarter, heller Ton, der wie Musik klingt“, sagte eine junge Mochera zu mir, die neben einem großen Museum mit antiken Keramiken lebt. Ging sie in die Nähe er Skulpturen, hörte sie die hohen Fieptöne, die von ihnen – auch ohne Hineinblasen – ausgingen. Die Mochegefäße haben verschiedene geometrische Formen. In Quadrat, Kugel, Rechteck sind Bilder des Alltags, ihres Glaubens, ihrer Früchte, ihrer Tiere, ihrer Krankheiten, ihrer Justiz aufgezeichnet, die von Zeremonien, Religion, Heilen, Sex, Erotik, Geburt, Krankheit, Tod, Strafe, Kriegsgefangenschaft, Spielen, die mit Tod endeten und rituellen Kämpfen handeln. Tiere sind ebenso häufig wie Menschen dargestellt, vor allem erscheinen sie als beseelte Wesen mit Geist: Affen, Frösche, Hirsche, Fische, Kondore, Füchse, Hunde, Schlangen, Spinnen, Enten, Eulen, Tiger, Krebse, Muscheln und viele andere mehr. Noch üppiger ist die Darstellung der Flora: Kürbis, Yucca, Kartoffeln, Mais, Bohnen, Huava, Lucuma sind typische Früchte Perus. Nicht nur wegen des günstigen Klimas, sondern auch wegen eines klugen Bewässerungssystems hatten die Moche eine ungewöhnlich fruchtbare Erde.
Die Mocheaufzeichnungen entsprechen einem musikalischen Denken von Zellen, Tönen, Resonanzen, Farben, Formen und Geometrie. Doch am eindrucksvollsten sind ihre Gesichter. Eine gigantische Porträtgalerie zeigt gesunde, kranke, besessene, traurige, lachende, leidende, ängstliche, pfeifende, weinende und verrückte Gesichter. Ein Cocablätter kauender Mann, Cociero, hat die Blätter zu einem Klumpen in der Wange geschoben und sieht aus, als hätte er einen vereiterten Zahn. Die Keramiken zeigen Schamanen in Trance beim Betreten paralleler Welten. Einem, an einem Baum geketteten, Gefangenen werden von einem Geier die Augen ausgepickt. Neben Syphiliskranken sind Menschen mit Hasenscharten, Magenkrämpfen, Parodontose zu sehen. Es gibt Blinde und Halbblinde, denen ein Auge ausgestochen wurde, „Bauchbruch“- Kranke mit heraushängenden Eingeweiden, Alte mit Runzeln und Falten im Gesicht, Menschen mit Gesichtslähmungen und Kinngurt, Zwitter mit männlichem und weiblichem Geschlecht, Beinamputierte mit Prothesen, Kriegsveteranen mit amputierten Armen, Menschen mit Wirbelsäulenverkrümmungen, Tätowierte und Zwerge.Eindrücklich ist die Keramik eines Augen verdrehenden Betrunkenen im Gedächtnis geblieben, der links und rechts von zwei Frauen gestützt wird.
Eines Tages fotografierte ich ein männliches Keramikporträt mit schräg nach unten abfallenden Augen, ausgeprägten Nasenflügeln und weichem, ebenmäßigem Mund. Ich nenne ihn den Weiberhelden, weil er wie jemand aussieht, der mit beiden Beinen auf der Erde steht und sein Leben genießt. Wie groß war meine Verwunderung, dasselbe Gesicht in sechs verschiedenen Sammlungen wiederzusehen! Es war dasselbe Gesicht, jedesmal in einer anderen Art dargestellt, womit bewiesen war, daß die Moche von derselben Person unterschiedliche Porträts anfertigten, genauso wie wir es heute mit Fotos tun. Ich stellte mir vor, wie jemand in dreitausend Jahren mein Gesicht auf verschiedenen Fotografien entdecken wird und welche Botschaft er daraus lesen würde.
Die Ausdrucksmöglichkeiten in Ton sind unerschöpflich genutzt worden. Mit solch individuellen Persönlichkeitsmerkmalen stehen die Moche einmalig in der Welt da. Der Ausdruck ihrer Keramiken ist genauso vielgestaltig wie der der Fotografie. Während Menschen der Gegenwart zu einer idealistischen Sicht ihrer selbst neigen und sich besser darstellen, als sie sind, ist die naturalistische Unverblümtheit der Moche als ein authentisches Aufzeichnen ihres Lebens zu betrachten. Bucklige sind neben Menschen mit Hautausschlägen und Furunkeln zu sehen. Haare wurden häufig unter Hauben versteckt, was sowohl für Männer, als auch für Frauen galt. Fürsten und Adlige mit kostbaren Turbanen wurden feiner modelliert. Auch sie waren unter den Bestraften. Gefesselte Gefangene wurden vor ihrem Tod porträtiert. Es waren weder Moche noch Inkas. Ein nackter Gefangener, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, trug eine Schlinge um den Hals. Auf seiner Brust waren links und rechts Echsen tätowiert. Eine zweite Gefangenenkeramik – ich entdeckte sie in einem Museum- fiel ähnlich aus, nur mit dem Unterschied, daß der Strick in einem Schlangenkopf endet, der den Gefangenen in seinen Penis biß. Sexualität erscheint in Zusammenhang mit einer Schlange, was auch für die alten Griechen galt. Wird die Schöpfergabe des Menschen von der Schlangenkraft bestimmt? stellte sich mir die Frage. Da Gefangene in sehr großer Zahl porträtiert wurden, erinnern sie an russische und deutsche Gefangene, über deren Tod die Täter genauestens Buch führten. Sie erinnern auch an die Fotos leerer Hinrichtungsstühle amerikanischer Kerker, auf denen Menschen per Gesetz getötet wurden. Niemand hat die Befugnis, Menschen zu töten, weder auf die eine, noch auf die andere Art. Den Tod stellten die Moche an allen Ecken und Enden dar. Einmal umarmt ein Totenskelett eine Frau, beide erscheinen als Paar, ein anderes Mal ist er unter Masturbierenden. Er steht neben Frauen, die ihre kranken Babys mit Gesängen einwiegen. Ein nackter Mann, ausgezehrt bis auf Haut und Knochen, spielt auf einer Planflöte ein Lied. Der Totenschädel eines keramischen Stierkopfes sieht dem Original zum Verwechseln ähnlich. Jede Menge Fledermaus-, Fuchs-, Vogel- und Echsenmenschen sind aus der Erde geholt worden, wo sie Jahrtausende schlummerten. Spektakulär sind bärtige Männer mit Flügelhelmen (Indianer haben keine Bärte), einem typischen Wahrzeichen der Nordeuropäer in der Antike. Parallel gefundene Mumien und Skelette von Europäern verstärken diesen Eindruck. Neben keramischen Skulpturen erscheinen filigrane Zeichnungen auf den Gefäßen, die Götter untereinander oder in Interaktion mit Menschen zeigen.
Die Keramiken waren wegen ihrer Verbindung zu den Ahnen mit dem Geist und der Energie der Menschen ausgestattet, die vor langer Zeit mit ihnen gelebt hatten. Mit Geist und Energie aufgeladen, sind diese Gefäße Repräsentanten des Vergangenem. Durch das Fotografieren kam ich mit diesem Geist in Verbindung, mit dem ich mich zu verständigen begann. Einen Gegenstand in der Hand zu halten, der von Menschen stammte, die vor Jahrtausenden auf demselben Fleck lebten, auf dem ich jetzt lebe, ließ mich vor Ehrfurcht erschaudern. Es ist ihr Lebensgeist, der über den Gegenstand direkt auf mich strahlte. Was wird aus meinen Knochen werden? Was wird von meinem Lebensgeist bleiben?

„Können Sie sich vorstellen, unsere Welt von einer Sekunde zur nächsten untergehen zu sehen, die dann in dreitausend Jahren von ahnungslosen Menschen, die nichts über uns wissen, ausgegraben wird?“, fragte ich einen Museumswärter.
„Ja, ich kann es mir vorstellen“, antwortete er.
Indem ich die Moche ausgrub, grub ich mich selbst aus. Die Moche sprachen zu mir aus einer anderen Zeit. Sie sprachen zu mir, indem ich ihre Keramikberichte betrachtete.

Gundula Schulze Eldowy

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TÖNENDE BIBLIOTHEK

Antike keramische Skulpturen der Moches / Gundula Schulze Eldowy

Die tönende Bibliothek

Gundula Schulze Eldowy, Buch „DIE TÖNENDE BIBLIOTHEK“, Unikat, Format: 29x27cm, in Leinen gebunden, 166 farbige Photographien der Größe: 22,0 x 14,4 cm, C-Prints, signiert, datiert, betitelt, (siehe gleichnamige Serie)

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