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Waldo’s Schatten

Waldo’s Schatten 1990

Es gibt kaum Frauen, die eine Einzelausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlins hatten. Mir ist es mit der Serie „Waldo’s Schatten“ gelungen, einer Serie voller Weiblichkeit. Daß ich in einem Land und in einer Stadt mit männlich ausgerichtetem Geist dies schaffte, habe ich meiner Rebellion zu verdanken. Europa hat einen männlichen Geist, weil Aristoteles seit Jahrhunderten das Denken mit seiner Haltung bestimmt, die besagt, daß jemand schon vor dem Erleben weiß, wie es ist. Also das Leben als pure Idee! Südamerika, wo ich zur Hälfte lebe, hat dagegen einen weiblichen Geist, der im Erleben das Wirken der kosmischen Kräfte erkennt. Intuitiv hatte ich diesen Geist schon immer verstanden, auch, als ich die Kamera auf mich selbst richtete und mich mit einem Spiegel aufnahm. Das MoMA in New York war so begeistert, daß der Direktor Kirk Varnedoe Bilder der Serie ankaufte und ein Bild der Serie in die ständige Ausstellung des MoMA hängte, wo ich neben Koryphäen wie Picasso, Clemente, Giacometti, Yves Klein und Rodin hing. Es waren zuerst die Schweizer, Franzosen und US-Amerikaner, die den Wert meiner Bilder in der richtigen Größe erkannten.

Waldo's Schatten

Was bin ich doch für ein Blindgänger gewesen. Den Kopf zum Platzen voll mit Gedanken und für’s Leben wenig Sinn. Der Geist, der aus meiner Seele kriecht, erkennt seinen Schöpfer nicht mehr wieder. Wo ist blmeine Lebendigkeit geblieben? Ich meine, das Singen und Klingen, das Rauschen, Schwirren und Surren in der Luft. Sie brauchen bloß den Atem anzuhalten, dann spüren Sie’s. Jeder Ochse kennt es, jeder Esel, jedes Pferd. Es ist in ihnen, wie im Meer, den Flüssen, Feldern und Wäldern. Und ich? Ich, der Mensch? Was spüre ich, was rieche ich, was schmecke ich? Ist der Kosmos schon so weit von mir entfernt? Dann holt er mich bald zu sich, sollte ich nicht freiwillig, aus eigenem Antrieb, zu ihm gelangen. Warum läßt sich’s bloß so schwer mit ihm leben? Kann ich nicht akzeptieren, daß alles ein Fluß ist, eine Bewegung, ein Über-, Unter- und Nebeneinander verschiedener Dinge, ein Oben, ein Unten, und was weiß ich dazwischen? ,,Alles, was man im Leben ge­winnt, geht wieder verloren“, sagt ein alter Mann zu mir. Sein trauriges Gesicht läßt mich ahnen, was er meint: Frühling, Sommer, Herbst und Winter ist wie das Blut in unseren Adern. Der fruchtige Saft der Seele kreist seinen beständigen Lauf. Ohne diese Bewegung wäre ich schließlich nicht da. Warum verabscheue ich sie dann so? Weil sie mir die Ruhe nimmt? Ich habe mir ein Bett gemacht, in dem ich schlafe; die Vergangenheit. Nun bin ich mittendrin, im Leben, aus meinen Träumen her­ ausgeschleudert. Mit wachen Augen herumzulaufen, ist nicht immer so lustig wie man glaubt. Wie sollst du das Flimmern in dir in den Griff kriegen? Es kommt, wie alles Gute im Leben, in den unmöglichsten Situationen. An einem sonnigen Frühlingsmorgen stehe ich in der gro­ßen Stadt auf, öffne mit Schwung die Jalousien vor dem Fenster und breite bei gleißendem Licht, das mich blendet, meine Arme links und rechts mit den Fensterflügeln aus. Fast hänge ich in der Luft, denn ich fühle mich auf einmal ganz leicht, so leicht, wie selten in meinem Lben. Ich befinde mich im dritten Stock. Zwölf Meter unter mir die Straße mit festem Boden. Noch hält mich meine eigene Kraft auf den Beinen. Mach bloß keinen Mist! rauscht es mir durch den Kopf, die letzte Barriere vor dem Absprung. ,,Der Skispringer kehrt nicht mehr zur Erde zurück“, fällt mir der Titel einer Graphik von Hanns Schimansky ein, die mir gefällt. Ein kleiner Anstoß würde genügen und ich wäre hinüber.

Doch was ich eben noch als brenzlig empfunden habe, ist in Wahrheit sprudelndes Leben. Beim ersten Mal glaubte ich noch, nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein. Dann kam der Sommer 1990. Auch die Erde flimmerte. Vor Hitze. Und auf dem Asphalt die Schatten­ spiele der Blätter. Sie tanzen mit meinem eigenen Schat­ten vor mir her, über den ich springe, wie beim Hüpfe­kästchen. Das Licht glitzert durch die Bäume, die in Reih und Glied den Weg passieren. Die Grillen zirpsen im Gras. Es ist, als würden wir ein und dasselbe Lied singen. Da ist es wieder um mich herum, dieses Flim­mern, und ich spüre deutlicher als je zuvor, einen alles­ umfassenden, unendlichen Lebensstrom, in dem es keine Grenzen mehr zu geben scheint, in dem alle irdischen Energien sich verbinden. Hinter einem Kind, das mit dem Roller an mir vorbeifährt, dackelt ein kleiner Hund. Sein Schwanz ragt kerzengrade in die Luft. Jeder von uns ist ein kleiner Planet, denke ich, in seiner ureigensten Bahn kreisend, scheinbar unaufhörlich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Wenn ich heute Neptun bin, von der Erde weit entfernt, so bist du Venus und du Merkur. Wir drehen uns in einem Radius, der der Sonne gehört, egal, ob ich gerade dabei bin, an mei­ner eigenen Hitze zu verglühen, während du das Leuch­ten noch in dir suchst, und du tänzelnd deine Bahn nimmst, spielend leicht den anderen die Spannung zu nehmen oder zu geben. Die Fülle der Möglichkeiten ist unfaßbar. Und das ist es ja gerade, was ein Mensch so schwer begreifen kann: etwas fassen zu wollen. Was immer man auch darunter verstehen mag, letztendlich wird nichts von dem bleiben, was festgehalten wird. Gleichgültig, ob es sich dabei um Worte, Photogra­phien, Skulpturen, Bilder oder um Gefühle handelt.

Gundula Schulze Eldowy, März 1991

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Gundula Schulze Eldowy, Tim Lienhard, 1991

Waldow's Schatten

Gundula Schulze Eldowy Vorwort Katalog Waldos Schatten, Neue Nationalgalerie 27.9.-3.11.1991

Waldow's Shadow

Gundula Schulze Eldowy Vorwort Katalog Waldos Schatten, Neue Nationalgalerie 27.9.-3.11.1991 Englische Übersetzung 

L'ombre de Waldo

Gundula Schulze Eldowy Vorwort Katalog Waldos Schatten, Neue Nationalgalerie 27.9.-3.11.1991 Französische Übersetzung

Wer ist Waldo?

TAZ 30.9. 1991 Jeannine Fiedler

Waldo's Schatten, Museumsjournal

1991

Frauenbilder von Gundula Schulze Eldowy

Bachelorarbeit von Miriam Sofie Landwehr, Universität München

Darstellung von Weiblichkeit in Fotografien aus den Serien Tamerlan,
Der große und der kleine Schritt und Waldo’s Schatten 

Ausstellungen

Gundula Schulze Eldowy, Ausstellung „Waldo’s  Schatten“, Neue Nationalgalerie Berlin 1991 

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